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Mussar tutIn der Schweiz wurden bis in die 1980er-Jahre Kinder ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen weggenommen und in Einrichtungen und Pflege- oder Adoptivfamilien untergebracht, wo viele von ihnen Gewalt und Missbrauch erlebten. In einer Videoinstallation erzählen zehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen ihre persönliche Geschichte.
Erst im 21. Jahrhundert rückte ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte in das Licht der Öffentlichkeit: Eingriffe des Staates in das Leben von Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprachen mit sogenannten Fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Nicht nur Erwachsene waren davon betroffen, sondern bis in die 1980er-Jahre auch hunderttausende Kinder und Jugendliche. Sie wurden ihren Eltern oder anderen Bezugspersonen – oft gegen deren Willen – weggenommen und in Einrichtungen und Pflege- oder Adoptivfamilien untergebracht. In vielen Fällen haben sie darunter schwer gelitten und ihre körperliche, psychische oder sexuelle Integrität oder ihre geistige Entwicklung wurde unmittelbar und in schwerer Weise beeinträchtigt.
Die Fremdplatzierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz ist Thema in der zweiten Ausgabe des Formats «Erfahrungen Schweiz» im Landesmuseum Zürich. Das Format kommt ohne Objekte aus und besteht aus einer grossformatigen und immersiven Projektion mit Ton über Kopfhörer sowie einer Vertiefungsstation, die das Thema kulturhistorisch kontextualisiert. Im Zentrum stehen die Erzählungen von zehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen.
So erzählt beispielsweise Armin (*1927) wie ihn seine unverheiratete Mutter zur Adoption freigeben musste. Nach einem Aufenthalt im Kinderheim Thalwil lebte er nur zwei Jahre bei einer Pflegefamilie, bevor er 1934 aus Kostengründen in der Erziehungsanstalt «Sonnenberg» in Kriens LU platziert wurde. Dort wurden er und andere Knaben körperlich und psychisch bestraft. Erst mit 17 Jahren konnte Armin selber über sein Leben bestimmen.
Ein ebenso eindrückliches Schicksal erlebte Uschi (*1952), die der jenischen Mutter entzogen und wie Armin in Pflegefamilien, Kinder- und Erziehungsheime gebracht wurde. Nach jahrelangem Missbrauch wurde sie 14-jährig vom Onkel vergewaltigt. Während dieser ohne Strafe davonkam, versorgte man Uschi im Erziehungsheim «zum Guten Hirten» in Altstätten SG. Über 3500 Aktenseiten zeugen von Vorurteilen gegenüber Jenischen seitens Behörden und Heimangestellten.
Die zehn Zeitzeuginnen und Zeitzeugen stehen für hunderttausende Betroffene in der Schweiz. Für die Interviews wurden Personen aus allen Landesteilen ausgewählt. Es sind Menschen, die nicht zum ersten Mal über ihre Erfahrungen sprechen. Über schwierige und traumatische Erlebnisse vor einer Kamera zu sprechen, braucht Mut. Umso wichtiger sind ihre Erzählungen und ihr Engagement für die Aufarbeitung der Geschehnisse und für die Geltendmachung der Rechte von Betroffenen.
Die Videoinstallation ist vom 5. Juli bis 27. Oktober 2024 und vom 14. Januar bis 27. April 2025 im Landesmuseum Zürich zu sehen.
Das Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen wurde in den letzten Jahren wissenschaftlich beleuchtet. Unter anderen befasste sich das Nationale Forschungsprogramm 76 «Fürsorge und Zwang» (NFP 76) mit den Wirkmechanismen von Fürsorge und Zwang in Geschichte, Gegenwart und Zukunft. In einem nächsten Schritt initiiert und fördert das Bundesamt für Justiz Projekte zur Vermittlung der Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Dazu gehört eine nationale Wanderausstellung. Diese wird im Oktober 2025 im Musée Historique Lausanne eröffnet und bis Ende 2027 an verschiedenen weiteren Stationen gezeigt werden. Die aktuelle Installation im Landesmuseum Zürich steht nicht im Zusammenhang mit dieser Wanderausstellung, sieht sich aber als Beitrag an die Vermittlung dieses Kapitels der Schweizer Geschichte.